Freitag, 6. April 2012

Der Gekreuzigte


Kreuzbild von Johannes vom Kreuz
Ein großes Bild ja, aber nicht von einem, der als großer Maler gilt. Johannes vom Kreuz (1542 bis 1591), der bedeutendste Mystiker der Neuzeit und einer der großen Meister der spanischen Sprache, schuf es in dem für seine dramatische Biographie entscheidenden Jahr 1577. Noch wirkte er als Spiritual und Beichtvater im Karmelitinnenkloster „La Encarnación“ zu Avila, wo Teresa von Jesus, die ihm ebenbürtige Mystikerin, Priorin war. Im Streit um die Reform des Ordens, deren geistliche Antriebskräfte Teresa und Johannes waren, wurde er Ende 1577 von seinen Gegnern entführt, und von da an durchlitt er bis zu seinem Tod eine Epoche der Demütigung, Verfolgung, Verkennung, Anfechtung und Krank­heit. Gerade in diesen Jahren reifte sein literarisches Werk, das nicht nur ein einmaliges Zeugnis persönlicher Liebesvereinigung mit dem lebendigen Gott darstellt, sondern auch bis heute den Weg anzeigt, der zu diesem Ziel führt. Der entscheidende Punkt auf diesem Weg ist – wie könnte es in christlicher Mystik anders sein? – der Gekreuzigte, das Kreuz.

Trotz seiner winzigen Maße, trotz des bescheidenen Aufwands – eine  Federzeichnung von wenigen Quadratzentimetern – ein großes Bild. Die Größe dieses Bildes liegt in der überraschenden Unmittelbarkeit, in der seine Gestalt als solche zu sprechen vermag, wenn wir uns, ohne uns auf Kontexte abzustützen, die Augen von ihr gefangennehmen lassen.

Wen wundert es, dass einer, der nichts anderes „ist“ als lebendige Beziehung zum Gekreu­zigten, ihn nicht nur in sich, sondern auch über sich hinaus zur Gestalt bringt? Es geht bei dieser Zeichnung eines Meditationsbildes nicht darum, ein Kunstwerk zu fertigen, sondern jenen, den die eigene Seele sucht, ins Bild zu holen und sich selbst ins Erbilden dieses Bildes hineinzugeben.

(Bischof+ Klaus Hemmerle)


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